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Zwang und Neuroplastizität

November 26, 2012
PreetzRedakteur

Der Zwang gehört zu den schwersten und hartnäckigsten psychischen Erkrankungen, die das Leben der Betroffenen extrem stark einschränken können und sie zu Marionetten machen, sodass sie praktisch kein lebenswertes Leben mehr haben.

Ein Mensch, der unter einem Zwang leidet, weiß, dass sein Verhalten unlogisch, unsinnig und unnötig ist. Er kann aber nichts dagegen tun. Die Impulse beim Zwang sind so stark, dass sie mit dem Willen nicht kontrolliert werden können. Das Zwangsdenken und Zwangsverhalten ist so tief im Nervensystem verankert, dass es automatisch abläuft. Dies muss aber nicht immer so bleiben. Die Hirnforschung zeigt einen Weg auf. Das Stichwort lautet „Hirnplastizität“. Denn die Verdrahtung in Gehirn und Nervensystem ist beeinflussbar durch unser Denken, Fühlen und Handeln.

Wenn ein zwangskranker Mensch seinen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen, Raum gibt, werden die damit verbundenen Nervenstrukturen trainiert und der Zwang wird verstärkt. So wie ein Muskel und eine Gedächtnisspur im Gehirn durch Wiederholung verstärkt wird, so werden auch bei Zwängen durch Wiederholung der Zwangs-Gedanken oder Zwangs-Handlungen die entsprechenden Schaltkreise im Gehirn verstärkt. Genauso kann der Zwang aber auch gezielt geschwächt werden. Es hat sich gezeigt, dass Zwangspatienten, die das Konzept der Neuroplastizität kennen und verstanden haben, sehr viel dafür tun können, ihre Zwänge erfolgreich zu vermindern.

Der Zwang und seine Behandlung

Die Behandlung eines Zwangs sollte zwei Ebenen beinhalten, das Bearbeiten der Ursachen und die Nutzung der Neuroplastizität, um das Zwangsdenken und Zwangsverhalten systematisch weiter auszutrocknen. Ein Waschzwang beispielsweise ist nicht selten mit einem unbewussten Gefühl verbunden, schmutzig oder schuldig zu sein. Das Waschen hat in diesem Fall häufig die Funktion einer rituellen Handlung, sich zu reinigen. In der Therapie kann man die Ursache für Gefühle wie „ich bin schmutzig“, „ich bin schlecht“, „ich bin schuldig“ auffinden und lösen. Dadurch werden die Impulse und Gedanken beim Zwang deutlich vermindert. Aber der Zwang ist damit noch nicht überwunden. Jetzt muss der Zwang systematisch immer weiter eliminiert werden.

Die ursachenorientierte Therapie öffnet die Tür, sie stößt ein Tor auf zur Möglichkeit, den Zwang zu überwinden. Die alten ausgetretenen Wege im Nervensystem bestehen noch immer und die neuen verschneiten Wege müssen erst noch begangen und ausgetreten werden. Das bedeutet, dass der Zwang nicht überwunden, der Veränderungsprozess nicht abgeschlossen ist, sondern erst begonnen hat. Nach der Lösung der Ursachen des Zwanges besteht die Aufgabe des Patienten darin, quer über den Rasen durch den hohen Schnee den neuen Weg zu betreten.

Der erste Schritt besteht darin, dass der Patient erkennt, dass er gerade einen Zwangsgedanken denkt. Diesen Gedanken muss er stoppen. Er distanziert sich von dem Zwang. Er denkt nun nicht mehr „Der Zwang, das bin ich“, sondern „Der Zwang ist nur ein Gedanke meines Gehirns, eine Art Schluckauf des Gehirns“.

Der zweite Schritt besteht darin, dass er nicht dem Zwang folgt, sondern stattdessen etwas Konstruktives tut. Dann beginnen seine Gedanken sich allmählich zu verändern. Diesen Prozess kann man an folgendem Beispiel verdeutlichen:

Stellen Sie sich vor, in einem verschneiten Park gibt es einen Glühweinstand und eine Toilette. Um zur Toilette zu kommen, geht man ein paar Meter auf dem Weg und biegt dann nach links ab. Weil dieser Weg jeden Tag benutzt wird, ist der Schnee niedergetrampelt und der Weg ist sehr leicht begehbar. Dieser Weg repräsentiert das ungewollte Verhalten in unserem Fall.

Stellen wir uns weiter vor, der Glühweinstand wird geschlossen und ein paar Meter weiter rechts öffnet ein anderer Glühweinstand. Wenn die Menschen jetzt wieder zum WC gehen wollen, gehen Sie wieder den gleichen Weg und trampeln damit den bestehenden Pfad weiter aus.

Die Behandlung bei Zwangserkrankungen, die die Erkenntnisse zur Neuroplastizität gezielt nutzt, kann man sich wie folgt vorstellen: Wenn ein Besucher des Glühweinstandes jetzt zur Toilette gehen will, geht er quer über den Rasen durch den hohen Schnee. Beim ersten Mal wird er durch einen kniehohen Schnee stapfen und nasse Füße bekommen. Der andere Weg wäre viel einfacher und leichter. Aber je häufiger er diesen Weg geht, desto mehr wird dieser Weg, der das gesunde Verhalten repräsentiert, ausgetreten. Die neuen Bahnen im Gehirn werden gestärkt. Aus einem Trampelpfad wird ein Weg und später eine Straße und dann eine Autobahn. Der andere Weg, der nun nicht mehr oder immer weniger benutzt wird, schneit allmählich zu. Wenn ein unter Zwang Leidender verstanden hat, dass er durch sein Denken und Handeln sein Gehirn verändern kann, kann er dies nutzen, um den Zwang zu überwinden.

Wann immer er einen Zwangsimpuls oder einen Zwangsgedanken wahrnimmt, ist der erste Schritt von außen zu betrachten „aha, das ist jetzt wieder ein Gedanke, ein Schluckauf des Gehirns, das bin nicht ich, das ist einfach ein Schluckauf des Gehirns“. Dann kann sich der Zwangskranke, der in seinem Denken immer noch zwangskrank ist, entscheiden, den neuen Weg zu betreten, wohl wissend, dass am Anfang der Schnee noch hoch liegen wird.

Zwangskranke Menschen sollten sich diese Zusammenhänge immer wieder vergegenwärtigen, weil sie immer wieder in die Situation kommen, sich entscheiden zu müssen, den alten leichten Weg zu gehen, der letztendlich mit Krankheit und Leid verbunden ist, oder sich zu entscheiden, den neuen Weg zu gehen, der anfänglich schwer ist, der in Zukunft aber immer mehr mit Leichtigkeit, Freiheit und Gesundheit verbunden ist.

Zusammenfassung: Zwang und Zwangsbehandlung

Zwangsdenken und Zwangsverhalten haben sehr häufig einen seelischen Hintergrund, der den Zwang als Gedanken oder Verhaltensimpuls erst auslöst. Durch Wiederholung wird der Zwang verstärkt und immer tiefer im Gehirn eingeprägt. So kommen in der Behandlung die wesentlich verändernden Kräfte zusammen: einmal die Aufarbeitung der tiefen Ursachen und zweitens die Veränderungen im realen Denken und Verhalten des Patienten.

An dem beschriebenen Beispiel wird deutlich, dass Veränderung und Heilung bei einem Zwang bzw. einer Zwangserkrankung ein Prozess ist, der Monate und auch Jahre in Anspruch nehmen kann. Aber schon nach ein bis drei Monaten ist es viel leichter möglich, die neuen, jetzt ausgetretenen Wege zu gehen, die nicht in den Zwang führen, sondern in Gesundheit und Freiheit.

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